Mehr Jungen* werden Opfer sexuellen Missbrauchs

München, 14. Mai 2020. Im Fall von sexuellem Missbrauch wird die Sorge um die Jungen und jungen Männer häufig vernachlässigt.

Missbrauchszahlen steigen

Im Moment haben neue Fälle in der Beratungsstelle KIBS des KINDERSCHUTZ MÜNCHEN kaum oder keinen Bezug zur Corona-Krise. Nur vereinzelte Fälle sind auf die Corona-Krise zurückzuführen – wenn sich zum Beispiel Eltern jetzt an KIBS wenden, weil sie zuhause Verhaltensauffälligkeiten beobachten oder weil sie gerade mehr Zeit haben für ein Beratungsgespräch. Spätestens jedoch, wenn sich die allgemeine Situation verbessert und Kindertageseinrichtungen und Schulen zunehmend geöffnet sind, werden die Fälle sexuellen Missbrauchs und/oder häuslicher Gewalt ansteigen. Fachleute aus der Kinder- und Jugendhilfe rechnen mit einer deutlichen Zunahme an Anfragen in den  Fachberatungsstellen, sobald die Menschen wieder Zugang zum Hilfesystem haben – und weil andere Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen, Schulen, Schulsozialarbeit und Vereinen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen feststellen und sich Gedanken machen werden.

Unabhängig von der Corona-Krise steigen Straftaten gegen sexuelle Selbstbestimmung seit 2017 kontinuierlich an – 2019 gab es bayernweit rund fünf Prozent mehr Fälle. Zurückzuführen ist das vor allem auf den Anstieg der Verbreitung pornografischer Schriften.[1] Die Zahl der Verstöße wegen Verbreitung pornografischer Schriften stieg im vergangenen Jahr bundesweit um rund 52 Prozent, bei Kinderpornografie sogar um fast 65 Prozent[2]. Die Gründe: zunehmende Verbreitung im Internet sowie umfangreichere Ermittlungen. Mit der Corona-Krise und den damit zusammenhängenden Ausgangsbeschränkungen liegt es nahe, dass neben dem Stromverbrauch auch die Onlinezeiten in der Familie zunehmen – und damit auch die Zugriffe auf einschlägige Netzwerke der Kinderpornografie.

Aktuell kann Missbrauch häufig nicht erkannt werden

Durch die Betretungsverbote in Kitas und Schulen für einen großen Teil der Bevölkerung sowie die Ausgangsbeschränkungen haben Kinder und Jugendliche über einen sehr langen Zeitraum sehr viel weniger Kontakt zu anderen, d.h. zu Freunden, aber auch Erwachsenen, Nachbarn und anderen Bezugspersonen außerhalb der Familie. Sie werden weniger „gesehen“ und es gibt weniger „Quellen“, die Auffälligkeiten oder Sorge um ein Kind oder ein*n Jugendliche*n berichten könnten. Zudem führt auch die starke Begrenzung auf die Familie zu der Herausforderung, dass z.B. auch nur schwer per Telefon Hilfe geholt werden kann, weil Kinder in einer Bedrohungssituation innerhalb der Familie nur erschwert und nicht ungestört zum Handy oder Telefon greifen können.

Rund 14 Prozent der Opfer sexuellen Missbrauchs sind Opfer im eigenen sozialen Nahraum[3]. Der Tatort Familie kann jetzt wie ein Gefängnis für Kinder sein, wenn sie dort Missbrauch oder Gewalt (mit-) erleben.

Immer noch Tabu-Thema – bei Jungen denkt man nicht gleich an sexuellen Missbrauch

Wut, Angst, Schmerzen, Ohnmacht – und vor allem Schweigen. Jungen, die sexualisierte und/oder häusliche Gewalt erleben, haben starke Schamgefühle. Es geht auch heute noch um das Aufbrechen eines Tabus. Das Erlebte passt nicht ins Rollenbild – von ihnen selbst und auch noch immer nicht in das der Gesellschaft. Während bundesweit sexueller Missbrauch von Kindern um rund acht Prozent zunahm[4], sind die Zahlen in Bayern nahezu unverändert. Knapp ein Drittel der jungen Menschen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, sind Jungen[5]. Der Anteil der betroffenen männlichen Jugendlichen allerdings ist in Bayern im vergangenen Jahr um fast zehn Prozent gestiegen[6]. Die Dunkelziffer ist wesentlich höher. In der Kriminalstatistik wird nur das sog. Hellfeld, also die der Polizei bekannt gewordene Kriminalität, erfasst.

Veränderungen im Beratungssetting durch Corona

Im Moment beraten die pädagogischen Fachkräfte schwerpunktmäßig telefonisch. In Verdachtsfällen hat sich die Vorgehensweise in der Beratungsstelle KIBS verändert: Während früher ein Austausch mit anderen Fachkräften stattfand, um noch mehr Informationen zum Fall zu erhalten, ist im Moment das Jugendamt oft der einzige Ansprechpartner, weil andere Stellen wie Schule oder Schulsozialarbeit nicht in dem notwendigen Maß erreichbar sind. Als Insoweit erfahrene Fachkräfte (gemäß § 8a SGB VIII) werden die Berater*innen der Beratungsstelle KIBS bei Verdacht auf Missbrauch jedoch weiterhin vom Jugendamt angefragt und um Einschätzungen bzgl. Inobhutnahme gebeten.

Zudem bietet KIBS Krisenintervention für Betroffene an, die jetzt durch Corona noch stärker belastet sind. Oft sind die Berater*innen die einzigen Ansprechpersonen.

Es wird an Kapazitäten fehlen, die zusätzlichen Fälle abzufangen

Bereits vor der Corona-Pandemie gab es einen großen Mangel an Fachkräften im sozialen Bereich, was auch daran liegt, dass der Beruf wie viele andere systemerhaltende Berufe nicht gut bezahlt ist. Diese Lücke wird in den kommenden Monaten größer werden. In der Regel muss die Jugendhilfe jedoch erst konkrete Zahlen vorlegen, bevor eine zusätzliche Stelle ermöglicht wird. Wir wünschen uns sehr, dass hier rechtzeitig gehandelt wird, da abzusehen ist, dass die Kapazitäten fehlen werden.

Was kann man tun?

Sowohl Mädchen als auch Jungen können missbraucht werden. Oftmals geraten jedoch Jungen aus dem Blick – und holen sich von selbst auch keine Hilfe. Kinder und Jugendliche suchen von sich aus keine Beratungsstelle auf. Im Moment ist ein ungestörtes Telefonieren insbesondere in beengten Wohnverhältnissen nur möglich, wenn der*die Täter*in schläft oder außer Haus ist. Größere Kinder und Jugendliche sprechen vielleicht mit Personen aus ihrem direkten Umfeld (Nachbarn). Vor Corona wurden oft Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen oder Freund*innen aktiv – selten die Betroffenen selbst. Kleinere Kinder sind besonders gefährdet, da sie keinerlei Kontakt nach außen mehr haben.

Alle, die ein ungutes Gefühl haben oder etwas mitbekommen, können sich an Fachberatungsstellen wie KIBS wenden. KIBS hilft und zieht ggf. weitere Hilfen hinzu, wie Jugendamt, Justiz, Polizei etc. In der Gesellschaft darf das Thema nicht verstummen und die Jungen dürfen keinesfalls ignoriert werden. Wer wegschaut, schützt die Täter*innen.

[1] Polizeiliche Kriminalstatistik Bayern 2019, Stand: März 2020
[2] Polizeiliche Kriminalstatistik BKA 2019, Stand: März 2020
[3] Polizeiliche Kriminalstatistik Bayern 2019, Stand: März 2020
[4] Polizeiliche Kriminalstatistik BKA 2019, Stand: März 2020
[5] Polizeiliche Kriminalstatistik Bayern 2019, Stand: März 2020
[6] Polizeiliche Kriminalstatistik Bayern 2019, Stand: März 2020

Über den KINDERSCHUTZ MÜNCHEN

Der KINDERSCHUTZ MÜNCHEN ist ein überkonfessioneller und parteipolitisch ungebundener Träger der Kinder- und Jugendhilfe, Träger von Einrichtungen der Kindertagesbetreuung sowie Vormundschafts- und Betreuungsverein mit Sitz in München. Mit vielfältigen Angeboten trägt der im Jahr 1901 gegründete gemeinnützige Verein dazu bei, dass Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Familien ihr Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen und sich aktiv an der Gesellschaft beteiligen. Die Angebote der über 50 Einrichtungen in und um München umfassen ambulante Erziehungshilfe, Beratung bei sexuellem Missbrauch, Migrationsangebote, soziale Arbeit an Schulen, Stadtteilangebote, stationäre Erziehungsangebote, betreute Wohnformen, Kindertageseinrichtungen sowie Vormundschaften und rechtliche Betreuungen.

KIBS ist die Kontakt-, Informations- und Beratungsstelle für Jungen und junge Männer bis 27 Jahre in ganz Bayern, die sexuelle und/oder häusliche Gewalt erfahren haben – kostenlos und auf Wunsch anonym.

Weitere Informationen

KINDERSCHUTZ MÜNCHEN
Beate Zornig | Öffentlichkeitsarbeit
Tel +49 (0)89 23 17 16 – 9923 | oeffentlichkeitsarbeit@kinderschutz.de

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